Sportdidaktische Überlegungen für die Arbeit mit adipösen Kindern und Jugendlichen
Sport, Spiel und Bewegung haben einen erheblichen Einfluss auf das Selbstkonzept, also auf die Wahrnehmung und das Bild, das jemand von sich selbst hat. Dies geschieht auf verschiedenen Ebenen, sowohl auf der physischen, als auch auf der psychischen Ebene. Hier sind einige der wichtigsten Effekte, die Sport auf das Selbstkonzept haben kann:
Sportliche Betätigung führt oft zu einer Verbesserung des physischen Erscheinungsbildes, was das körperliche Selbstbild stärkt. Wenn Menschen regelmäßig Sport treiben, nehmen sie häufig eine positive Veränderung in ihrem Körperwahrnehmung wahr, wie etwa eine bessere Fitness, Muskulatur oder ein gesünderer Körper. Diese Veränderungen können zu einem gesteigerten Selbstwertgefühl führen, insbesondere wenn Menschen stolz auf ihre Fortschritte sind. Menschen, die regelmäßig Sport treiben, berichten oft von einer besseren Zufriedenheit mit ihrem Körper, was das Selbstkonzept positiv beeinflusst. Aus diesem Grund ist es wichtig, insbesondere adipöse Kinder und Jugendliche mit passenden didaktischen Methoden an Sport, Spiel und Bewegung heranzuführen und ihnen dabei einen Anreiz zu bieten, auch nachhaltig dabei zu bleiben.
Das sportdidaktische Konzept der Mehrperspektivität
Das sportdidaktische Modell der Mehrperspektivität wurde von dem Sportpädagogen Dietrich Kurz entwickelt. Es bietet eine didaktische Grundlage, um den Sportunterricht vielseitig und flexibel zu gestalten und unterschiedliche Sichtweisen auf die Aspekte Sport, Spiel und Bewegung integrieren. Das Modell richtet sich gegen eine einseitige Vermittlung und zielt darauf ab, vielfältige Perspektiven auf den Sport zu fördern, sodass die Schülerinnen und Schüler verschiedene Zugänge zu Bewegung, Spiel und Sport erfahren können. Die Grundidee der Mehrperspektivität besteht darin, dass sportliche Aktivitäten und Themen im Unterricht nicht nur aus einer Sichtweise – etwa der Leistungsperspektive – betrachtet werden, sondern auch aus anderen Perspektiven, die die individuellen Interessen und Bedürfnisse der Schüler*innen ansprechen.
Das Konzept der Mehrperspektivität eignet sich besonders gut für die Arbeit mit adipösen Kindern, da es die Möglichkeit bietet, verschiedene sportliche Zugänge und Erfahrungen zu vermitteln, die über eine rein leistungsorientierte Betrachtungsweise hinausgehen. Adipöse Kinder können von diesem Ansatz profitieren, da er ihnen erlaubt, sich ihren eigenen Fähigkeiten entsprechend und ohne Leistungsdruck sportlich zu betätigen. Hier sind einige Ideen, wie das Konzept der Mehrperspektivität in der Arbeit mit adipösen Kindern angewandt werden kann:
Gesundheitsperspektive: Die Gesundheitsperspektive ist besonders wichtig im Hinblick auf die Förderung eines positiven Körperbewusstseins und die langfristige Verbesserung der körperlichen Fitness. Adipöse Kinder könnten über Bewegungsformen aufgeklärt werden, die besonders förderlich für ihre Gesundheit sind (z. B. Ausdauersportarten, leichtes Krafttraining). Dabei sollte auf eine altersgerechte und spielerische Vermittlung geachtet werden, sodass die Kinder Spaß an der Bewegung finden und langfristig motiviert bleiben.
Kooperationsperspektive: Durch kooperative Spiele und Aktivitäten, bei denen das Teamgefühl und die Zusammenarbeit im Vordergrund stehen, können die Kinder das Gemeinschaftsgefühl erleben und soziale Bindungen aufbauen. Spiele, die in kleinen Gruppen durchgeführt werden, bieten ihnen die Möglichkeit, Erfolge unabhängig von körperlichen Einschränkungen zu erleben und soziale Unterstützung zu erfahren.
Eindrucksperspektive: Aktivitäten, die auf ästhetisches Erleben und Körperausdruck abzielen, wie Tanz oder rhythmische Bewegung, bieten eine Möglichkeit, ohne den Fokus auf Leistung den Körper besser kennenzulernen. Hier kann eine spielerische Auseinandersetzung mit Musik und Bewegung dazu beitragen, ein positives Körperbild zu fördern und das Selbstbewusstsein zu stärken.
Wagnisperspektive: Vorsichtig und unter Berücksichtigung der körperlichen Gegebenheiten können Kinder durch angeleitete Wagnisaktivitäten, wie leichte Parcours oder Abenteuerübungen, das Gefühl der Selbstwirksamkeit erleben. Sie lernen, kleine Herausforderungen anzunehmen und eigene Grenzen zu spüren, was ihr Vertrauen in den eigenen Körper stärkt.
Leistungsperspektive: Die Leistungsperspektive kann in der Arbeit mit adipösen Kindern behutsam integriert werden, indem die Kinder ermutigt werden, persönliche Fortschritte wahrzunehmen und eigene, erreichbare Ziele zu setzen. Der Fokus liegt weniger auf dem Vergleich mit anderen, sondern auf der individuellen Entwicklung und dem persönlichen Fortschritt.
Ausdrucksperspektive: Diese Perspektive erlaubt es adipösen Kindern, sich kreativ zu betätigen und ihren Körper als Ausdrucksmittel wahrzunehmen. Gerade für Kinder, die sich häufig von sportlicher Betätigung distanziert fühlen, kann dies eine Möglichkeit sein, Freude an Bewegung zu entwickeln und sich selbst zu entfalten.
Praktische Umsetzung
Eine mögliche praktische Umsetzung könnte darin bestehen, die verschiedenen Perspektiven thematisch im Unterricht zu verankern, indem man in regelmäßigen Abständen Schwerpunkte setzt. Jede Sporteinheit könnte zum Beispiel eine andere Perspektive in den Vordergrund stellen, sodass die Kinder nach und nach lernen, Sport und Bewegung als etwas Vielseitiges und Positives zu erleben.
Ziel der Anwendung dieses Modells ist es, dass adipöse Kinder einen Zugang zum Sport finden, der frei von Stigmatisierung und Leistungsdruck ist. Stattdessen werden sie darin unterstützt, Bewegungsfreude und Körperbewusstsein zu entwickeln und Sport langfristig als positiven Teil ihres Lebens zu integrieren.
Prof. Dr. Oliver Stoll, Leipzig
Dezember 2024